„Keinen Strich drunter machen!“


„Ruhe geben, Strich drunter – selbst wenn 75 und mehr Jahre dazwischen liegen? Ein klares NEIN!“, sagte Haigers Stadtverordnetenvorsteher Bernd Seipel im Rahmen einer bewegenden Gedenkzeremonie für Mitglieder der Haigerer Familie Hirsch, die im „Dritten Reich“ in Konzentrationslagern ermordet wurde. Zu dieser Gedenkstunde waren Mitglieder der Familie aus New Jersey (USA), Israel, Schottland, Belgien und England gekommen, die sich zum Teil vorher nicht gekannt hatten. „Es war eine sehr beeindruckende Veranstaltung, wir sind sehr froh, dass die Stadt Haiger uns die Möglichkeit des Erinnerns gegeben hat“, sagte Jaap Hecht aus Belgien - Sohn von Mally Hirsch. Er dankte vor allem der Buchautorin Renate Steinseifer, die das Treffen gemeinsam mit Freunden und der Stadt Haiger organisiert hatte. Die Familienmitglieder legten an den Wohnorten der Familie Hirsch am „Frigghof“ (heutiges Ärztehaus) und in der Kreuzgasse Blumen nieder. 

Bürgermeister Mario Schramm und Stadtverordnetenvorsteher Bernd Seipel begrüßten die internationalen Gäste (Ansprachen siehe Kasten auf dieser Seite).

Für die Familienmitglieder war das Treffen in Haiger auch deshalb etwas Besonderes, weil sie nun einen Ort des Trauerns und des Gedenkens haben - ihre ermordeten Angehörigen haben keine Gräber, es gab bisher keinen Ort, an dem man an die Verstorbenen gedenken konnte. 

„Eure Lieben sind in Haiger nicht vergessen“

„Eure Lieben sind in Haiger nicht vergessen“, sagte Renate Steinseifer: „Ich werde weiter an sie erinnern und aus ihrem Leben berichten.“ Sie empfinde es als Auftrag, in Haiger an die zu erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus erniedrigt, entrechtet und ermordet worden sind. Sie wolle ihnen ein Stück ihrer Würde zurückgeben.

Es gebe in der Familie sicher viele Fragen, die „oft unbeantwortet geblieben sind, die Euch berührt oder gequält haben“, sagte Renate Steinseifer. Sie dankte der Familie, „dass Ihr an den Ort zurückgekommen seid, an dem Eure Großmütter  geboren wurden und ihre Jugendzeit verbracht haben“.

Die Geschichts-Expertin begrüßte unter anderem Michael Hirsch aus London – einen Sohn von Hugo Hirsch und Enkel von Hermann und Betty Hirsch aus der Kreuzgasse. Hugo überlebte das KZ Buchenwald und floh 1939 nach England. Für seine Frau Adele und ihre Mädchen Renate (7) und Mirjam (5) gab es kein Entrinnen aus Nazi-Deutschland.

Ein Onkel von Jaap Hecht und Michael Hirsch war Willi Hirsch, der nach Holland geflüchtet war  und am 15. Juli 1942 von Holland nach Auschwitz verschleppt wurde. Sechs Wochen später wurde er mit seiner jungen Frau Ilse ermordet.

Über Holland ins KZ nach Auschwitz

An der Zeremonie nahmen auch Ron Volk aus den USA, ein Enkel von Selma Hirsch, sowie Orit Philosof mit Sohn Gil aus Jerusalem teil. Selma Hirsch, die im Frigghof lebte, hatte Fritz Levi aus Herborn geheiratet. Beiden hatten zwei Kinder Joseph und Charlotte, die mit dem Kindertransport nach England gebracht wurden, um überleben zu können. Ihr Vater Fritz wanderte mit ihnen von England nach Amerika aus. Selma wohnte mit ihrer Schwiegermutter im Ghettohaus in Herborn und wurde am 10. Juni 1942 nach Sobibór verschleppt und ermordet.

Ihre jüngere Schwester Berta hatte ebenfalls nach Herborn geheiratet. Ihr Mann war Alfred Rosenberg. Auch ihre Mädchen Johanna und Miriam wurden 1939 in England in Sicherheit gebracht. Das war im Jahr 1939. „Auch Orit Philosof und Emily Graham haben ihre Großmutter Berta nie kennengelernt - gemeinsam mit ihrer Schwester Selma ist sie den Weg des Grauens nach Sobibór gegangen“, berichtete Renate Steinseifer. Wilhelm, der Bruder von Selma und Berta, wurde ins KZ nach Dachau verschleppt. Er überlebte und emigrierte 1939 nach England.

Nach der Zeremonie legten die Familienmitglieder an den Wohnorten der Familie Hirsch Blumen nieder. An der Gedenktafel am Frigghoff las Renate Steinseifer das Totengebet „Kaddisch“. Die Geigerin Tamara Kraus aus Erdbach spielte das Kadosh und später in der Kreuzgasse die israelische Nationalhymne. Natilla Nersesyan-Hotico sorgte für die fachkundige Übersetzung in die englische Sprache.

Lehrerin Martina Stettner von der Johann-Textor-Schule überbrachte Grüße der Schule und erinnerte daran, dass das Thema „Jüdisches Leben in Haiger“ weiter in der Schule aufgegriffen werde. Vor über 20 Jahren hatte eine Schülergruppe gemeinsam mit Stettner das Buch „Das Schicksal der Haigerer Juden“ veröffentlicht, durch das erstmals Kontakte zu den Nachfahren der Familie Hirsch entstanden. Auch heute wolle die Schule sich für eine „bessere und friedliche Zukunft einsetzen“, sagte Martina Stettner. Adolf Hirsch - der mit 102 Lebensjahren heute noch in Israel lebt - sei 1935 Schüler der JTS gewesen.        

Einige Mitglieder der Großfamilie Hirsch nutzten die Gelegenheit, den „Judenfriedhof“ am Ende der Bismarckstraße zu besuchen. Andere reisten nach einem Besuch des Nationalen Automuseums in Ewersbach in ihre Heimatländer zurück.

Die Zeichen der Zeit erkennen

Wir dokumentieren (leicht gekürzt) die Redebeiträge des  Stadtverordnetenvorstehers Bernd Seipel und des Bürgermeisters Mario Schramm. 

Bernd Seipel: „Ich freue mich, Sie heute hier in Haiger, im Sitzungssaal der Stadtverordnetenversammlung, begrüßen zu dürfen und möchte von einem denkwürdigen Tag sprechen. Vor mehr als 80 Jahren lebte eine Familie Hirsch in dieser Stadt. Deren tragische Geschichte ist uns durch Renate Steinseifer ins Bewusstsein gerückt worden. Ihr unermüdliches Suchen nach Spuren jüdischen Lebens hat uns mit der Familie Hirsch bekannt gemacht und schließlich zu dieser Begegnung geführt. Wir sind sehr berührt darüber, dass Nachkommen der Familie aus Belgien, England, den USA und Israel nach Haiger gereist sind, um die Heimat von Hermann und Betty Hirsch kennenzulernen.

In der Vorbereitung kam mir das Gespräch mit einem älteren Herrn in Erinnerung. Er hatte mich im Zusammenhang mit der Verlegung der „Stolpersteine“ Stadt angesprochen:

„Ich kann‘s nicht mehr hören...“

„Immer wieder diese Themen – Nazis, Krieg, Auschwitz. Es ist so lange her - da muss doch mal Schluss sein.“

„Außerdem waren wir doch nicht dabei. Da gehört ein Strich drunter. Da muss es endlich mal Ruhe geben.“

Ruhe geben, Strich drunter – selbst wenn 75 und mehr Jahre dazwischen liegen?

Ein klares NEIN!

Auch heute denken wir wieder an Menschen, die Mitbürgerinnen und Mitbürger dieser Stadt waren. Die mit ihren Kindern und Familien zu unserer Stadt gehörten. Menschen, die Nachbarn waren. Menschen die sich kannten, die miteinander gelebt haben. Und die plötzlich verschwunden waren. Zeitzeugen jener Jahre, die authentisch berichten könnten, gibt es kaum noch. Wir sind auf lückenhafte Informationen angewiesen.

Vieles wird zu schnell vergessen.

Darum hat die Haigerer Politik entschieden, „Stolpersteine“ zu setzen. Sie sollen helfen zu erinnern, uns aufmerksam machen.

Sie sind stumme Zeugen, die zum Nachdenken anregen und uns auffordern, Lehren zu ziehen.

Was können, was müssen wir lernen? Es ist kaum möglich, sich gedanklich in jene Zeit zu versetzen. Wir leben heute. Damit sind wir Zeugen dessen, was heute passiert, Zeitzeugen unserer Tage. Schlimme Zeichen begegnen uns zunehmend. Erkennen wir die ZEICHEN dieser Zeit?                  Täglich werden wir mit einer Flut von Nachrichten, Informationen und Meinungen überschüttet. Erkennen wir darin den vielfachen Missbrauch von Sprache? Erkennen wir die zunehmend auftauchenden Begriffe und Sprachbilder aus einer überwunden geglaubten Zeit unserer Geschichte? Erkennen wir die sinnverdrehenden Äußerungen, die inzwischen aus rechten Ecken unserer Parlamente – aber auch auf Schulhöfen und in „geselligen Runden“ vernehmbar sind?

Erkennen wir, dass diese übernommene Sprache durchsetzt ist mit Hass und Verachtung Andersartigen und Fremden gegenüber? Erkennen wir die Zusammenhänge zwischen vergifteter Sprache und mörderischen Taten? 

Das Jugendbuch „Damals war es Friedrich“ erzählt in bedrückender Weise, wie das Fortschreiten des Nationalsozialismus langsam, fast unbemerkt seinen Lauf nahm und später zwei Freunde trennte. Der eine war Jude – der andere nicht. Heute sind es wieder jüdische Mitbürger wie Friedrich, aber auch Mustafas, Yamils und Dilaras, Menschen muslimischen Glaubens oder anderer Hautfarbe, die in Deutschland nicht mehr sicher leben können. Ich habe eine solche Entwicklung für nicht mehr möglich gehalten.

Erkennen wir, dass es kein Verschweigen, kein Vergessen, keinen „Strich drunter“ geben darf?

Dass Mut und Rückgrat gegen diese fortschreitende Verseuchung des Klimas gefragt sind?

Mein Wunsch ist, dass es in Zukunft keiner weiteren „Stolpersteine“, Gedenktafeln und Mahnmale in unserem Land mehr bedarf. Dass keiner wegen seiner Herkunft, Hautfarbe oder Religion bedroht, verfolgt wird oder gar um sein Leben fürchten muss.

Wir müssen uns erinnern, erinnert werden, damit sich derartige Tragödien nicht wiederholen. Möge Ihr Besuch und die mahnenden Steine uns dazu helfen.

Im März 1970, konnte ich mit einer Jugendgruppe das Land Israel besuchen. Zum Programm gehörten erste Kurzbesuche in israelischen Familien. Wir waren in Seminaren auf den Besuch im Land vorbereitet worden. Ich wurde in einer israelischen Gastfamilie begrüßt. Small talk. Vorsichtige Wahl der Gesprächsthemen.

Der Tisch wurde gedeckt. Und dann sah ich es. Eine sechsstellige Zahl, eintätowiert auf dem linken Unterarm. Die Gastgeberin war Auschwitz-Häftling gewesen und hatte überlebt. Mir verschlug es die Sprache.

Diese liebenswerte Dame bewirtete uns mit ausgesuchter Gastfreundschaft. Nach dem Essen wurde weitergesprochen: Schlaglichter aus ihrer Biografie – der Weg aus Europa nach Palästina - ein Neuanfang. Ihre Worte bei der Verabschiedung haben sich mir fest eingeprägt: „Das Leid und die Erinnerung an das, was mir und meiner ermordeten Familie zugefügt wurde, kann ich niemals vergessen. Ich kann Euch Deutschen jedoch inzwischen vergeben. Deshalb warst Du in meinem Haus willkommen.“

Im Namen der von der Haigerer Bevölkerung gewählten Stadtverordneten möchte ich Ihnen sehr herzlich danken: Für Ihre Entscheidung, überhaupt nach Haiger zu kommen, dafür, dass Sie so weite Wege auf sich genommen haben und für Ihre Gesprächsbereitschaft.

Martin Buber wird der Satz zugeschrieben: „Das Wesentliche im Leben ist Begegnung.“ Wir danken für diese Begegnung mit Ihnen.

Mario Schramm: Als Bürgermeister begrüße ich Sie ganz herzlich in Haiger. Auslöser ist das informative Buch „Die Flucht aus Haiger“ von Renate Steinseifer. Sie haben - wie Sie in Ihrem Vorwort sagen - sehr tief gegraben, um die Ereignisse aufzuarbeiten, wie es dazu kam, dass Juden, die in Haiger lebten, plötzlich „heimatlos“ wurden.

Immer wieder werden wir an die Geschehnisse im sogenannten „Dritten Reich“. erinnert Und immer wieder sind wir erschüttert, wenn wir an das Unfassbare denken. Wir dürfen zu diesen schlimmen Ereignissen nicht schweigen und erst recht nicht verschweigen, was damals mit Menschen geschehen ist. Es gilt, alles zu tun, damit so etwas sich nicht wiederholt, wobei man derzeit feststellen muss - und das ist sehr bedauerlich und gleichzeitig erschreckend – dass die Menschheit nichts daraus gelernt hat. In der Ukraine, in Israel oder an anderen Orten tobt Krieg, werden Menschen unwürdig behandelt und getötet. Damit diese Gräueltaten nicht in Vergessenheit geraten, ist es wichtig, dass sich Menschen immer wieder darum kümmern, unermüdlich in der Geschichte forschen und alle wichtigen Daten und Fakten zusammentragen, die ein würdiges Erinnern möglich machen.

2020 wurden in Haiger zehn „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig in der Innenstadt verlegt, die daran erinnern, wo 13 Menschen jüdischen Glaubens in Haiger gewohnt und gelebt haben. 

Ihre Lebenswege fanden letztlich durch die Täter des NS-Regimes ein gewaltsames Ende in den Konzentrationslagern Sobibor, Treblinka, Auschwitz und Theresienstadt. 

Neben diesen „Stolpersteinen“ und einer Gedenktafel erinnert der jüdische Friedhof an die jüdischen Mitbürger, die hier in Haiger verstarben. Ich wünsche mir, dass alle Menschen noch genauer hinsehen, was in unserer Zeit geschieht, Stellung beziehen, wenn Unrecht wahrgenommen wird, und vor allen Dingen mehr Toleranz gegenüber den Menschen üben, mit denen wir leben.   

Ich bedanke mich für das heutige Treffen, unsere Begegnung und wünsche uns allen eine friedvolle Welt.