„Frauenaufstand“ in Haiger?


VON ROUVEN PONS 

Nicht selten machen schon allein die historischen Aktentitel neugierig, mehr über den Inhalt zu erfahren. Was sollen wir unter folgendem Eintrag verstehen: „Untersuchung gegen die bei der Vernagelung der Mädchenschule in Haiger beteiligten Weiber – 1817“? 

Ein Blick in die dünne, nur vier Blatt umfassende Akte gibt Aufschluss über ein interessantes Ereignis. Unter der Verwaltung des französischen Satellitenstaates Großherzogtum Berg – also zwischen 1806 und 1813 – war in Haiger die so genannte „Sommerschule“ eingeführt worden, was zur Erhöhung der Geldzahlungen der Gemeinde an den Lehrer geführt hatte. Nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft war Haiger wieder an Nassau-Oranien gefallen, das an der Einrichtung der Sommerschule festhielt, obwohl die Einwohner damit wegen der erhöhten Geldzahlungen keineswegs einverstanden waren. Sie verweigerten lange Zeit die Zahlung und kamen den Forderungen erst nach, als ein Militärkommando vor Ort gehörig Druck aufbaute. Kaum aber waren die Soldaten wieder abgezogen, zog am 28. Juli 1814 vormittags zwischen 11 und 12 Uhr „eine Rotte Weiber jubelnd“ zur Mädchenschule, um diese mit Brettern zu vernageln. 

Die Namen der beteiligten Frauen wurden nicht an die Behörden weitergegeben 

Die Frauen hatten zu diesem Zweck eigens Nägel und Bretter herbeigeschafft. Dass eine von ihnen eine Flasche Branntwein mit sich führte und „den Genossinnen tüchtig zutrank“, wurde von der Behörde mit großem Missfallen beobachtet und gemeldet. 1815 ging Haiger von Nassau-Oranien an das Herzogtum Nassau über, und dessen Behörden versuchten nun, den Fall aufzuklären, konnten aber einige Zeit die Namen der Beteiligten nicht ermitteln; wohl auch, weil man sich in Haiger in Schweigen hüllte. Schließlich konnte die Landesregierung doch im Januar 1817 – also zweieinhalb Jahre nach den Ausschreitungen – die Namen melden, damit das Vergehen geahndet werde. Dabei stellte sich heraus, dass daran auch ein Mann beteiligt gewesen war. Die Behörde aber erklärte entschuldigend, „daß er zufällig in den Haufen ausgelassener vom Brandwein berauschter Weiber gerieth und von diesen zu der That mit fortgerissen wurde, ohne den Vorsatz dazu früher gefaßt zu haben.“ 

Erst zweieinhalb Jahre nach dem Vergehen kam es zum Prozess - auch ein Mann war beteiligt 

Geschlechterspezifisch wurde also mit unterschiedlichem Maß gemessen. Eine Niederschlagung der Ermittlungen gegen die Frauen kam für die Behörde nicht in Frage, weil sich die Einwohner von Haiger durch Widersetzlichkeit auszeichneten und die Milde zu weiterer Sittenlosigkeit führen werde. Die Tat wurde „nur“ noch als Tumult klassifiziert. Denn es habe sich um einen Ungehorsam gegen eine Regierungsverfügung gehandelt, nicht darum, die Regierung zu einer Handlung zu zwingen. Dann wäre es ein Aufruhr gewesen. Interessant aber am Schluss des Berichts ist die erneute geschlechtsspezifische Charakterisierung des Ganzen: Eine Bestrafung müsse „auch wohl nach der dem weiblichen Geschlecht eigenen Leichtsinn, vermöge dessen sie wohl schwerlich die Wichtigkeit ihrer That einsehen, in Betracht gezogen werden. [...] Hiernach und da die Strafe des Tumultes dem richterlichen Ermessen zu bestimmen überlaßen ist, so würden wir die erwähnten thätigsten Theilnehmerinnen in vierzehntägiges – die übrigen und auch den Kiefer Ph. Hecker in achttägiges Amtsgefängniß und zu Bezahlung der Untersuchungskosten in soldium verurtheilen; es sey denn, daß Höchsten Orts und besonderer Gnade eine mildere Bestrafung beliebt werden wolle.“ 

Gefängnisstrafen von vier und acht Tagen verhängt 

Und tatsächlich ließ man in Wiesbaden eine gewisse Milde walten: Die aktiv beteiligten Frauen wurden am 22. Februar 1817 „nur“ zu achttägigem, die nur anwesenden Frauen sowie der beteiligte Mann zu viertägigem Amtsgefängnis jeweils unter Tragung der Kosten verurteilt. Der Aktentitel wurde übrigens mittlerweile modernisiert und in seiner Aussagekraft geschärft: „Verurteilung mehrerer Frauen und eines Mannes wegen der Zunagelung der Mädchenschule in Haiger als Widerstand gegen die durch die Sommerschule entstandenen Mehrkosten.“ 

(Wir danken Rouven Pons vom Hessischen Landesarchiv in Wiesbaden, der uns diesen interessanten Aufsatz zur Verfügung gestellt hat.)