Weil Tiere keine Bremse haben


Plötzlich steht das Wildschwein im Scheinwerferlicht, Ausweichen klappt nicht mehr, die Notbremsung nur bedingt, und es kracht! Situationen dieser Art sind in der Region des ehemaligen Dillkreises keine Seltenheit. 25 Prozent aller Unfälle sind Wildunfälle. Aus diesem Grund starten das Polizeipräsidium Mittelhessen und die Stadt Haiger jetzt ein Pilotprojekt zur Reduzierung von Wildunfällen. Einprägsamer Titel: „Tiere bremsen nicht - Du schon! Wild kennt keine Regeln!“

Zahlreiche Vertreter der heimischen Polizei sowie Bürgermeister Mario Schramm, Ordnungsamtsleiter Oliver Thielmann und Ordnungspolizist Eike Estevez gaben jetzt den Startschuss für die Aktion. Zwei digitale Anzeigentafeln am Ortsausgang von Langenaubach und im Bereich „Linds Ecke“ (Abzweigung nach Flammersbach) erinnern die Verkehrsteilnehmer jetzt sechs Monate lang daran, dass auf diesem Streckenabschnitt der Landesstraße 3044 vermehrt mit Wildwechsel zu rechnen ist. Wenn die Verkehrsteilnehmer schneller als 60 km/h fahren, leuchtet die Botschaft auf.

„Unsere Tempo-Displays haben sich eindeutig bewährt, der Verkehr wird langsamer“, sagte Bürgermeister Mario Schramm. Da es in der Haigerer Gemarkung mit 106 Quadratkilometern sehr viel wild gebe, wolle die Stadt „dran bleiben“ und mit der Polizei daran arbeiten, die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer zu erhöhen. „Ich sehe fast jeden Abend Wild am Straßenrand“, berichtete der Rathaus-Chef und erklärte, er sei vom Erfolg des Pilotprojektes überzeugt. „Es geht darum, die Botschaft immer wieder zu wiederholen.“

„Auf mittelhessischen Straßen wurden in den vergangenen fünf Jahren rund 28.000 Kollisionen mit Wildtieren gezählt. Sie machen damit einen Anteil von rund 25 Prozent an den Gesamtunfällen in den Landkreisen Gießen, Wetterau, Marburg-Biedenkopf und dem Lahn-Dill-Kreis aus“, berichtete Polizeioberrat Gerhard Keller (Leiter der Direktion Verkehrssicherheit). Das Gros der Unfälle ereigne sich bei Dämmerung oder Dunkelheit, zudem seien die Herbst- und Wintermonate deutlich stärker betroffen. „Überwiegend bleiben nach den Zusammenstößen Sachschäden zurück, dennoch kamen in den zurückliegenden fünf Jahren zwei Menschen bei Wildunfällen in Mittelhessen ums Leben, 290 Personen trugen zum Teil schwere Verletzungen davon“, sagte Keller. Die Mitarbeiter der Polizeistationen des Polizeipräsidiums Mittelhessen müssten durchschnittlich etwa alle 90 Minuten einen Wildunfall aufnehmen.

Maßnahmen gegen Tiere blieben wirkungslos

Maßnahmen, die Wildtiere von den Fahrbahnen fernzuhalten, erwiesen sich bisher als wenig wirksam oder nicht praktikabel. Hierbei kamen zum Beispiel Reflektoren an den Leitpfosten oder Duftzäune zum Einsatz. Das Wild ließ sich durch diese Maßnahmen nicht dauerhaft beeinflussen lässt. Zudem bewegen sich die Waldbewohner zwischen Futter- und Schlafplatz instinktiv auf den ihnen vertrauten Wegen - ungeachtet der von Menschen gestalteten Verkehrswege. „Wir richten unser Augenmerk auf die Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführer, um die Wildunfallgefahr zu reduzieren“, fasste Keller zusammen.

Geschwindigkeit ist entscheidender Faktor

„Geschwindigkeit ist der Faktor, der das Fahrzeug bei plötzlichem Wildwechsel möglicherweise rechtzeitig zum Stehen bringt oder zu einem Zusammenprall mit dem Wildtier führt“, sagte Polizeioberkommissar Thomas Baumgart vom Regionalen Verkehrsdienst in Gießen, der das Pilotprojekt betreut. Bei 60 km/h kommt ein Pkw nach etwa 35 Metern, bei 80 km/h nach 55 Metern zum Stehen. Sollte in 60 Meter Entfernung ein Wildtier auf die Fahrbahn springen, kann der Wagen bei diesen Geschwindigkeiten noch rechtzeitig zum Stehen gebracht werden - bei 100 Stundenkilometern kommt ein Pkw nach etwa 80 Metern zum Stillstand und prallt gegen das Tier.

Das Verkehrszeichen „Wildwechsel“ wird offensichtlich von den Verkehrsteilnehmern nicht oder nur selten wahrgenommen. Die Polizisten sprachen von einem Gewöhnungsprozess. Deshalb wird jetzt auf die digitalen Displays gesetzt. Baumgart dankte der Stadt Haiger für ihre Kooperation und die Bereitschaft, kurzfristig ein weiteres Display anzuschaffen. Auf der 700 Meter langen Teststrecke zwischen Langenaubach und „Linds Ecke“ habe es seit 2019 30 Wildunfälle gegeben. Ziel der Displays sei es, die Geschwindigkeit des Verkehrs zu reduzieren, die Aufmerksamkeit zu erhöhen und die Unfallzahlen zu senken.

Jochen Decher, stellvertretender Vorsitzender des Vereins der Jäger des Dillkreises, dankte allen Beteiligten für ihren Einsatz und auch die Einbeziehung der Jägerschaft. Die Dimension von Wildunfällen sei in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Die ausgewählte Strecke sei sehr typisch für Windunfall-Geschehen. Bundesweit gebe es 300.000 gemeldete Wildunfälle im Jahr – die tatsächliche Zahl liege sehr wahrscheinlich bei über einer Million. „Auf den Straßen sterben Hirsche, Hasen, Füchse, Igel und viele andere Tiere“, sagte Decher.

300.000 gemeldete Wilndunfälle pro Jahr

„Die Notwendigkeit ist absolut gegeben“, sagte Joachim Bernard, Leiter der Polizeidirektion Lahn-Dill), der selbst innerhalb eines Jahres drei Begegnungen mit Rehwild auf dem Weg zur Arbeit hatte: „Ich bin froh über dieses Pilotprojekt und hoffe, dass es Erfolg hat.“ 

Um die Wirkung der Dialogdisplays auf die Wildunfallzahlen einschätzen zu können, setzen Ordnungsamt der Stadt Haiger und Polizei ab sofort auf Verkehrsmessungen auf der Versuchsstrecke. Die Technik hält die Verkehrsmenge, unterteilt in die unterschiedlichen Fahrzeugarten, fest und misst die gefahrenen Geschwindigkeiten. Die Daten werden lediglich statistisch für das Pilotprojekt ausgewertet und haben keinerlei Konsequenzen für die Fahrzeugführer. Für einen aussagekräftigen Vergleich wurden bereits vor der Installation der LED-Displays Messungen an der Versuchsstrecke vorgenommen.

Hoffen auf einen guten Verlauf des sechsmonatigen Pilotprojektes (v.l.): Thomas Baumgart (Polizei Gießen), Oliver Thielmann (Leiter Ordnungsamt), Bürgermeister Mario Schramm, Jochen Decher (Jäger des Dillkreises), Gerhard Keller (Polizei), Klaus Müller (Leiter Straßenmeisterei Dillenburg), Joachim Bernard (Leiter Polizeidirektion), Eike Estevez (Ordnungspolizei Haiger) und Andreas Düding (Leiter Verkehrsinspektion). Foto: Ralf Triesch/Stadt Haiger