Kein Vergessen und kein Schlussstrich


„Es darf kein Verschweigen, Vergessen oder ein Strichdrunter geben!“, forderte Stadtverordnetenvorsteher Bernd Seipel bei der Verlegung der „Stolpersteine“ in der Haigerer Kernstadt. Diese sollen an die jüdischen Familien erinnern, die in Haiger lebten und arbeiteten, in Konzentrationslager deportiert und umgebracht wurden. Die Initiative zur Verlegung der mit einer Messingschicht und einer Gravur versehenen „Stolpersteine“ war von Lehrerin Martina Stettner von der Johann-Textor-Schule sowie von der Haigerer Geschichtsfreundin Renate Steinseifer ausgegangen. Sponsoren haben die „stummen Zeugen“ (Seipel) finanziert, die von dem Künstler Gunter Demnig hergestellt und verlegt wurden. Im Frigghof 5 soll eine Gedenktafel an drei Geschwister der Familie Hirsch erinnern. 

„Diese Veranstaltung geht unter die Haut. Ich danke allen, die zu einem ganz wichtigen Tag beigetragen haben“, sagte Bürgermeister Mario Schramm. Begriffe wie Buchenwald, Sobibor und Auschwitz-Birkenau stünden für „unfassbare und furchtbare Verbrechen an jüdischen Bürgern“. Es sei wichtig, dass diese Elemente der deutschen Geschichte „niemals in Vergessenheit geraten“. Der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Haiger hätten „keine Sekunde gezögert“, als die Frage nach den Stolpersteinen aufgekommen sei. „Uns allen ist es wichtig, dass das Thema nicht in Vergessenheit gerät“, sagte Schramm.

Stadtverordnetenvorsteher Bernd Seipel erinnerte an ein Gespräch mit einem Haigerer Bürger, der ihm gegenüber gefordert habe, „endlich einen Schlussstrich zu ziehen“. Genau das dürfe nicht geschehen. „Wir brauchen Mut und Rückgrat. Wir müssen uns erinnern, damit sich eine solche Tragödie nie wiederholen kann“, sagte Seipel. Mit den Stolpersteinen erinnere man an „Mitbürger, die dazu gehörten, die Nachbarn waren – und die plötzlich verschwunden sind“. Heute, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Herrschaft, sei es wichtig, „die Zeichen der Zeit zu erkennen“. Auch heute wieder sei Sprache „durchsetzt mit Hass und Verachtung“. Aus der vergifteten Sprache entstünden mörderische Taten. „Heute sind jüdische Mitbürger, aber auch Muslime oder Menschen mit dunkler Hautfarbe in Gefahr – das hätte ich nie für möglich gehalten“, sagte Schramm.

In einer persönlichen Erinnerung an einen Israel-Besuch im Jahr 1970 berichtete Seipel von einer Gastgeberin, die am Arm die typische Tätowierung eines KZ-Insassen trug. Sie habe sich durch ausgesuchte Gastfreundschaft ausgezeichnet und zum Abschied erklärt: „Das Leid und die Erinnerung sind niemals zu vergessen. Aber ich kann vergeben – deshalb bist Du in meinem Haus willkommen.“

Lehrerin Martina Stettner berichtete von Ronald Volk, dem in den USA lebenden Enkel von Selma Hirsch. Er hatte 2004 Haiger erstmals besucht und ist seither mit der Familie der Textor-Lehrerin befreundet. Ronald Volk habe sich auf Spurensuche begeben und auch zur Verlegung der Steine eine Grußbotschaft geschrieben. Das heutige Deutschland habe keine Schuld, trage aber die Verantwortung, „für die Wahrheit einzustehen, wenn der Holocaust geleugnet wird“. Deutschland habe die moralische Pflicht an die Geschehnisse der Nazi-Herrschaft zu erinnern und „alles dafür zu tun, dass so etwas nicht mehr geschieht“.

Mit-Initiatorin Renate Steinseifer erklärte, die Verlegung der Stolpersteine habe für die noch lebenden Angehörigen der Haigerer Juden „eine ganz große Bedeutung“. Sie zitierte am Ende des bewegenden Rundgangs Passagen eines ganz aktuellen Briefes von Orit Philosof. Die in Israel lebende Enkelin von Bertha Hirsch dankte allen Beteiligten und vor allem den Schülern, die „dazu beitragen, die Erinnerung an die jüdischen Familien wach zu halten“. Das Projekt der Textor-Schüler und der Stolpersteine sei eine „wichtige, bedeutende und edle Tat“ und ein wichtiger Beitrag zum Gedenken an die Opfer des Holocaust. Die jüdischen Familien hätten zum Teil seit Generationen in Haiger und der Umgebung gewohnt. „Sie waren loyale und hart arbeitende Menschen. Einige haben im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Ihr einziges Verbrechen war, dass sie der vermeintlich falschen Religion angehörten“, schrieb Orit Philosof.

Mit einem bewegenden Musikstück von Tamara Kraus („Kadosch“) und dem von Renate Steinseifer gesungenen „S’hma Israel“ endete die sehr emotionale Verlegung der Stolpersteine und einer Gedenktafel am Frigghof 5 (Ärztehaus), die ganz sicher den einen oder anderen Haigerer Bürger oder Besucher der Stadt zum Nachdenken anregen werden.

Am umfangreichen Programm beteiligt waren zudem die beiden ehemaligen Schüler Nils Fladerer (er war eigens aus Berlin angereist und las den Text „Haltet das Gedenken wach“ von Eli Wiesel) und Silvia Zimmermann-Hannig, die aktuellen Schülerinnen Annalena Dünkel und Leonie Weyel (Klasse 10R3), die das „Gedicht von Theresienstadt“ vortrugen und Blumen an den Stolpersteinen niederlegten.

Jüdische Familien in Haiger

In dieser kurzen Übersicht gehen wir kurz auf jüdische Familien aus Haiger ein. Wir stützen uns dabei auf die Recherchen der Johann-Textor-Schüler und von Renate Steinseifer, die in Kürze ein Buch zum Thema veröffentlichen wird. 

Hugo Hirsch mit Familie und Bruder Willi: Hugo Hirsch wurde am 1. Juli 1908 geboren, als zweitältester Sohn von sieben Kindern von Hermann und Betty Hirsch. In der Kreuzgasse 7 stand sein Elternhaus. Hugo Hirsch war Sattler und hatte ein eigenes Geschäft. Nach der Reichspogromnacht wurde er ins KZ Buchenwald verschleppt, aber im Januar 1939 nach sieben Wochen wieder entlassen. Er durfte sein Geschäft nicht weiterführen.

Um einer erneuten Verhaftung zu entgehen, floh er im August 1939 nach England. Wenig später zogen seine Frau Adele und die beiden Töchter Renate und Mirjam nach Ehringshausen. Am 10. Juni 1942 wurden sie deportiert und per Zug nach Polen (Sobibor) verschleppt, wo sie vergast wurden. Die Mädchen waren fünf und sieben Jahre alt.

Willi Hirsch emigrierte 1937 in die vermeintliche Sicherheit nach Amsterdam/Holland. Er heiratete 1942 Ilse Kahn, die ebenfalls nach Holland geflohen war. Im Juli 1942 wurden sie ins Zentrale Sammellager Westerbork gebracht, registriert und weiter nach Auschwitz-Birkenau gebracht, wo sie am 21. August 1942 ermordet wurden.

Irma Strauß und ihre Tante Jettchen Bornheim: Irma wurde am 29. August 1913 in Haiger geboren und wohnte in der Hauptstraße 25, wo die Eltern Hermann und Gidda ein Manufakturwaren- und Lebensmittelgeschäft hatten. Einige Verwandte waren bereits 1934 und 1936 in die USA emigriert, da Irma geistig behindert war, wurde ihr dies nicht erlaubt. Sie wurde nach Frankfurt gebracht, wo sie in der Nähe ihrer Tante Jettchen wohnte. Jettchen wurde nach Theresienstadt deportiert. 1942 wurde Jettchen Bornheim im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Von Irma ist nur bekannt, dass sie 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. 

Isaak, Getrud und Norbert Löwenstein: Die Familie lebte seit 1908 in Haiger. Isaak war Viehhändler und Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Die jüngsten beiden der drei Kinder emigrierten 1938 nach Amerika. Der älteste Sohn Norbert wollte ebenfalls emigrieren, war aber während der Reichsprogromnacht noch in Haiger und wurde ins KZ Buchenwald verschleppt. Er kam nach drei Wochen aus dem KZ zurück, befand sich in schlimmem Zustand, und emigrierte anschließend über Holland nach Amerika. Die Eltern hatten das gleiche Ziel, wurden aber nach dreieinhalb Jahren in Holland ins Durchgangslager Westerbork in Holland verschleppt und anschließend im Viehwaggon nach Auschwitz-Birkenau transportiert, wo sie am 12. Februar 1943 vergast und verbrannt wurden.

Selma Hirsch und Geschwister: Sie lebten im Frigghof 5. Selma heiratete 1932 Fritz Levi aus Herborn und hatte zwei Kinder. 1939 schickte das Ehepaar seine beiden Kinder mit dem "Kindertransport" nach England, Fritz folgte wenig später und konnte 1940 mit beiden Kindern nach Amerika auswandern. Selma wurde 1942 deportiert und in Sobibor/Polen ermordet. In einem Brief an ihre Angehörigen schrieb sie: „Vergesst mich nicht!“ Ihre Schwester Berta heiratete Alfred Rosenberg aus Herborn, mit dem sie zwei Kinder hatte. Auch sie schickten die Kinder mit dem "Kindertransport" nach England. Alfred Rosenberg floh ebenfalls nach England, während Berta im Juni 1942 deportiert wurde - auch sie wurde, im Alter von 37, in Sobibór vergast.   

Wilhelm Hirsch, Selma und Bertas Bruder, war Schneider und verließ Haiger 1937 - vermutlich, um in der Großstadt Frankfurt als Jude „unterzutauchen“. Er wurde ins KZ Dachau deportiert und dort drei Monate lang gequält. Nach seiner Entlassung blieb er kurz bei den Schwestern in Herborn und floh dann nach England, wo er 1979 verstarb. Das Elternhaus der Hirschs am Frigghof (wo heute das Ärztehaus steht) wurde vor rund 40 Jahren abgerissen. 

Hintergrund Stolpersteine

Bereits 1996 hatte Lehrerin Martina Stettner von der Johann-Textor-Schule mit einer 10. Realschulklasse (10 R 1) eine Veröffentlichung mit dem Titel „Das Schicksal der Haigerer Juden“ herausgegeben. Die Klasse hatte sich mit der Zeit des Nationalsozialismus, speziell mit dem Schicksal der Juden in Haiger beschäftigt. 

Im Schuljahrgang 2019/2020 hat sich nun erneut eine Klasse um Frau Stettner zusammengefunden, die sich mit dem gleichen Thema beschäftigt hat. Die Lehrerin stand dabei im Kontakt mit der geschichtsinteressierten Bürgerin Renate Steinseifer, teilweise auch mit der Stadt Haiger. 

Renate Steinseifer hat sicher das größte Fachwissen, wenn es um die früher in Haiger lebenden jüdischen Familien geht. Sie schreibt ein Buch, das den Titel „Die Flucht aus Haiger - 6 Länder und das 7. ist kein Land zum Leben“ tragen wird. Außerdem steht sie bis heute mit Haigerer Familien jüdischen Glaubens in Verbindung.

Die Initiative zur Verlegung der STOLPERSTEINE kam von Frau Stettner und Frau Steinseifer. Nachdem sie diese Idee im Rathaus vorgetragen hatten, hat die Stadtverordnetenversammlung einstimmig die Verlegung beschlossen.  Nach einem Aufruf meldeten sich einige Sponsoren, die eine Patenschaft für einen solchen STOLPERSTEIN übernehmen wollen. Darunter sind neben Privatpersonen auch christliche Kirchen und Gemeinden aus Haiger, die Stadt Haiger mit Bürgermeister und Stadtverordnetenvorsteher, die Beschäftigten der Stadt, der Verein „Haiger gegen Rechts“ sowie die Johann-Textor-Schule.

Das Stolpersteine-Projekt

Das Projekt Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig begann im Jahr 1992. Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln aus Messing soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der Nazi-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Die Messingtafeln sind mit von Hand mittels Hammer und Schlagbuchstaben eingeschlagenen Lettern beschriftet und werden von einem angegossenen Betonwürfel getragen. Sie werden meist vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der NS-Opfer in das Pflaster bzw. den Belag des jeweiligen Gehwegs eingelassen. 2019 verlegte Demnig in Memmingen den 75.000sten Stolperstein. In über 1200 Kommunen in Deutschland gibt es mittlerweile Stolpersteine. In Großstädten wie Berlin, Köln oder Hamburg mehrere tausend. Außerdem wurden Steine auch in 25 weiteren europäischen Ländern verlegt. In fast 2000 Kommunen Europas gibt es „Stolpersteine“ im Straßenpflaster.